Der EuGH hatte in den verbundenen Rechtssachen Rs C-446/09 und C-495/09 (Philips/Lucheng Meijing ua sowie Nokia/Her Majesty’s Commissioners of Revenue and Customs) Gelegenheit, zum Anwendungsbereich der ProduktpiraterieVO (VO [EG] 1383/2003) auf (vermeintliche) Transitwaren Stellung zu nehmen.
In beiden Verfahren ging es um Waren, die aus einem Drittstaat (China) stammten und von den belgischen (Philips) bzw britischen (Nokia) Zollbehörden angehalten wurden. Dabei handelte es sich offenbar um „Fälschungen“ (im Fall von Philips: Rasierapparate, im Fall von Nokia: Mobiltelefone). Ob es sich bei diesen Waren, die sich in Nichterhebungsverfahren befanden, um Waren handelte, die womöglich auf den europäischen Markt umgeleitet werden könnten, oder ob es sich dabei lediglich um „Transitwaren“ handelte, also um Waren, die aus einem Drittstaat stammen und für einen Drittstaat bestimmt sind, stand in den Ausgangsverfahren nicht fest.
Im Fall von Philips ging es darum, ob die – von den Zollbehörden angehaltenen – Waren bereits allein aufgrund ihrer Lagerung in einem Zollager innerhalb der EU als rechtsverletzend eingestuft werden könnten. Im Fall von Nokia war die Frage zu behandeln, inwieweit die Zollbehörden überhaupt berechtigt sind, die Überlassung von (vermeintlichen) Transitwaren auszusetzen.
Dazu führte der EuGH aus, dass der Verletzung von Rechten am geistigen Eigentum verdächtige Waren, die aus einem Drittstaat stammen, nicht allein deshalb als „nachgeahmte Waren“ oder als „unerlaubt hergestellte Waren“ im Sinne der ProduktpiraterieVO eingestuft werden können, weil sie in einem Nichterhebungsverfahren in das Zollgebiet der Union verbracht wurden.
Diese Waren könnten aber ein Recht am geistigen Eigentum verletzen und somit als „nachgeahmte Waren“ oder als „unerlaubt hergestellte Waren“ eingestuft werden, wenn nachgewiesen wird, dass sie dazu bestimmt sind, in der Union in den Verkehr gebracht zu werden. Ein solcher Nachweis ist insbesondere dann erbracht, wenn sich herausstellt, dass die Waren Gegenstand eines Verkaufs an einen Kunden in der Union oder einer an Verbraucher gerichtete Verkaufsofferte oder Werbung waren, oder wenn sich aus Unterlagen oder Schriftverkehr, die diese Waren betreffen, ergibt, dass ihre Umleitung zu den Verbrauchern in der Union beabsichtigt ist.
Die mit einem Antrag auf Tätigwerden befasste Zollbehörde hat die Überlassung der Waren auszusetzen oder diese zurückzuhalten, sobald sie über Anhaltspunkte verfügt, die den Verdacht begründen können, dass die Rechtsverletzung vorliegt. Solche Anhaltspunkte können insbesondere liegen in der Nichtangabe der Bestimmung der Waren (obwohl das beantragte Nichterhebungsverfahren eine entsprechende Erklärung verlangt), dem Fehlen genauer oder verlässlicher Informationen über die Identität oder die Anschrift des Herstellers oder des Versenders der Waren, einer mangelnden Zusammenarbeit mit den Zollbehörden oder auch dem Auffinden von Unterlagen oder Schriftverkehr, die die fraglichen Waren betreffen und vermuten lassen, dass eine Umleitung dieser Waren zu den Verbrauchern in der Union eintreten kann.
Anmerkung:
Damit ist klargestellt, dass die reine Durchfuhr von zB mit einer in der EU geschützten Marke versehener Ware aus einem Drittland in ein anderes Drittland noch nicht ausreichend ist, um die Überlassung der Waren durch die Zollbehörden auszusetzen. Dies wäre (so der EuGH in Rn 63 der Entscheidung) eine unbillige Beschränkung des Welthandels. Zur Problematik, dass Waren auch im Zielland in Schutzrechte eingreifen könnten, führt der EuGH in Rn 65 aus, dass in diesem Fall die Möglichkeit der Zusammenarbeit der Europäischen Zollbehörden mit jenen des Bestimmungslandes gemäß Art 69 des TRIPS-Abkommens besteht.
Sobald allerdings Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht begründen könnten, dass die Waren auf den Europäischen Markt umgeleitet werden könnten, haben die Zollbehörden die Waren zurückzubehalten, um es den Gerichten zu ermöglichen, das Vorliegen von Nachweisen für eine Umleitung auf den Europäischen Markt zu prüfen. Um die Waren dann aber endgültig aus dem Verkehr ziehen zu können, muss dieser Anfangsverdacht der möglichen Umleitung auf den europäischen Markt im Eingriffsverfahren bewiesen werden. Eine Fiktion dahingehend, dass Waren, die Gegenstand eines Nichterhebungsverfahrens sind, bereits deshalb als in der EU hergestellte Waren gelten sollen, weil sie sich physisch in einem Zollager innerhalb der EU befinden (so die Argumentation von Philips), lehnt der EuGH in Rn 69 ausdrücklich ab.
Michael Woller, Schönherr Rechtsanwälte GmbH
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