Gem der VO 1/2003 sind für die Anwendung der EU-Kartellrechtsbestimmungen des Art 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die nationalen Wettbewerbsbehörden (NWB) und die Europäischer Kommission (EK) parallel zuständig.
von RA Mag Gerhard Fussenegger, LL.M. und RAA Mag Valentina Schaumburger, LL.M., beide bpv Hügel Rechtsanwälte, Brüssel
Gem der VO 1/2003 sind für die Anwendung der EU-Kartellrechtsbestimmungen des Art 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die nationalen Wettbewerbsbehörden (NWB) und die Europäischer Kommission (EK) parallel zuständig.
Im Sinne einer effizienten Verteilung und Bearbeitung der Fälle sowie der einheitlichen Anwendung des Wettbewerbsrechts legt die VO 1/2003 Regeln für den Fall fest, dass eine Wettbewerbsbehörde (EK oder eine der NWB) in einer Sache bereits entschieden hat:
Liegt bereits eine Entscheidung der EK vor, so sind NWB an die darin dargelegte Ansicht der Kommission gebunden (Art 16 VO 1/2003). Für den Fall, dass eine NWB in dieser Angelegenheit bereits entschieden hat, eröffnet Art 13 (2) VO 1/2003 der EK (und auch den anderen NWB) die Option, Beschwerden zu diesem Fall aufgrund dieser anderweitigen Erledigung abzuweisen.
Wird diese Option nicht ausgeübt, so stellt sich die Frage, wie die Europäische Kommission in praktischer Anwendung des Art 13(2) VO 1/2003 vorgeht, wenn sich bereits NWB mit dem Sachverhalt befasst haben. Gesetzlichen Vorgaben fehlen. Auch aus neuesten Entscheidungen des EuG ergibt sich kein einheitliches Bild. Zusammenfassend gilt wohl: „Die Kommission darf alles.“
T-402/13 Orange / Kommission vom 25.11.2014, noch nicht veröffentlicht
2012 hatte die französische Wettbewerbsbehörde per Entscheidung festgestellt, dass Orange (ehemalige France Télécom) mit einem bestimmten Verhalten keinen Verstoß gegen Art 102 AEUV (und die äquivalente nationale Bestimmung) begangen habe.
Diese Entscheidung der NWB hielt jedoch die Kommission nicht davon ab, zu einem späteren Zeitpunkt selbst ein Verfahren gegen Orange einzuleiten und Hausdurchsuchungen bei Orange anzuordnen. Untersuchungsgegenstand waren dabei Praktiken, die im Wesentlichen bereits Inhalt des Verfahrens in Frankreich waren, sich aber „hauptsächlich wegen ihrer weiteren geographischen und zeitlichen Ausdehnung“ vom Untersuchungsgegenstand der französischen Entscheidung unterschieden. Orange hat daraufhin Klage beim EuG auf Nichtigerklärung dieser Durchsuchungsbeschlüsse erhoben. Begründet wurde die Klage damit, dass die Beschlüsse nicht verhältnismäßig und nicht erforderlich seien, da bereits die französische WB für das gegenständliche Verhalten festgestellt habe, dass kein Missbrauch iSd Art 102 AEUV vorläge.
De facto war das EuG also mit dem Fall konfrontiert, dass die EK von dem in Art 13(2) VO 1/2003 eingeräumten Recht, eine Beschwerde wegen vorliegender Entscheidung einer NWB abzuweisen, nicht Gebrauch gemacht hatte. Das EuG führte hierzu allgemein aus, dass die EK nicht an nationale Entscheidungen zu Art 101 und 102 AEUV gebunden sei. Daraus leitete es außerdem ab, dass daher nicht nur die gegenständlichen Verfahrenshandlungen gegen Orange unionsrechtskonform wären, sondern auch jede zukünftige Entscheidung der EK in der Sache selbst – „sogar wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise bereits Gegenstand einer Entscheidung eines nationalen Gerichts ist und die von der EK angedachte Entscheidung zu besagter richterlicher Entscheidung im Widerspruch steht.“
T-355/13 easyJet / Kommission vom 21.1.2015, noch nicht veröffentlicht
Diesem Urteil liegt eine, von easyJet 2011 bei der EK eingereichte Beschwerde über die Gebührenordnung des Flughafen Schiphol zu Grunde. easyJet sah in dieser Gebührenordnung ua wegen Diskriminierung einen Verstoß gegen Art 102 AEUV im Sinne eines Marktmachtmissbrauchs.
easyJet hatte hierzu bereits 2008 bei der niederländischen WB eine Beschwerde eingebracht, diese war aber auf Basis einer von der Behörde vorgenommenen Prioritätensetzung abgelehnt worden. Diese Ablehnung war in Rechtskraft erwachsen, mit dem Vorwurf selbst hatte sich die NWB hingegen inhaltlich nicht im vollen Umfang befasst.
Die EK berief sich nun konkret auf Art 13(2) VO 1/2003 und lehnte die Behandlung mit dem Argument ab, der Fall sei bereits von einer NWB entschieden worden. easyJet klagte dagegen vor dem EuG und brachte im Wesentlichen vor, die Prüfung durch die niederländische WB sei nicht am Maßstab des Art 102 AEUV vorgenommen worden. Das EuG verwies auf den der EK eingeräumten „weiten Ermessensspielraum bei der Anwendung des Art 13 VO 1/2003,“ woraus es eine Beschränkung seiner Prüfkompetenzen ableitete: Im konkreten Fall habe es nur zu beurteilen, ob der EK ein Rechtsfehler oder ein offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Feststellung unterlaufen sei, die NWB hätte die Entscheidung „im Hinblick auf die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts“ geprüft. Dahingegen käme es nicht darauf an, ob die nationale Entscheidung einen Ausspruch über einen Verstoß enthält oder lediglich über (fehlende) Priorität. Da der EK kein Fehler unterlaufen sei, wurde die Klage abgewiesen.
Die Frage bleibt: Was nun?
Die EK verteidigte die Abweisung der Beschwerde in easyJet damit, dass eine erneute Prüfung einer Überprüfung der (Prioritäten-)Entscheidung der NWB durch die EK gleichgekommen wäre, obwohl hierfür ausschließlich nationale Gerichte kompetent wären. In die gleiche Kerbe schlägt auch die Feststellung des EuG, wonach die VO 1/2003 keinen „Mechanismus zur Ersetzung der nationalen Gerichte durch die Kommission“ habe schaffen wollen.
Ist dieses Argument in sich logisch und iSe der europäischen Rechtsordnung zu unterstützen, so widerspricht die Entscheidung easyJet jedoch diametral der nur zwei Monate zuvor ergangenen Entscheidung Orange, in der das EuG der Kommission die Möglichkeit der erneuten Prüfung der im Wesentlichen gleichen Handlungen am Maßstab derselben Bestimmung (Art 102 AEUV) einräumte. Damit besteht aber seitens der EK die - nicht zuletzt im Lichte der Rechtssicherheit und des Grundsatzes ne bis in idem – problematische Möglichkeit, mit der erneuten Überprüfung des im Wesentlichen gleichen Sachverhalts wie in der Entscheidung der (hier) französischen WB einen „second shot“ zu Lasten der betroffenen Unternehmen durchzuführen.
Im Fall easyJet wurde nun nicht einmal die Überprüfung der Prioritätenfrage verlangt, sondern die (erstmalige) vollwertige Prüfung des Sachverhalts auf Basis des Art 102 AEUV. Dass es hier de facto zu keiner materiellrechtlichen Überprüfung kam, ist für den EuG nicht relevant. Im Gegenteil, das EuG stellt fest, dass der EK auch in diesem Fall die Option der Abweisung einer Beschwerde mangels Priorität zusteht und dass eine solche nicht inhaltliche Entscheidung umgekehrt auch NWB berechtige, eine Beschwerde gem Art 13(2) VO 1/2003 abzuweisen. Dabei verweist es auf den Fall Vivendi vom 16.10.2013, wo aber explizit auf „mangelndes Unionsinteresse“ hingewiesen wird, dh, eine Begründung, die so jedenfalls nicht als Begründung durch die NWB herangezogen werden könnte.
Es scheint, das EuG hat noch nicht zu einer wohl durchdachten und konsequenten Linie zur Auslegung des Art 13(2) VO 1/2003 gefunden. Folgt man der Entscheidung in Orange, besteht das Risiko einer Doppelprüfung, folgt man easyJet, ergibt sich das Risiko eines unvollständigen Rechtsschutzes, da NWB die Prüfung einer Beschwerde im Hinblick auf eine andere NWB verweigern können, obwohl diese den Vorwurf inhaltlich nicht geprüft hat. Angesichts dieses Risikos, aber auch des Widerspruchs in den Entscheidungen des EuG, wird die Folgerechtsprechung des EuGH genau zu beobachten sein.
Im Sinne eines umfassenden europäischen Rechtsschutzes wäre einerseits wohl Mindestanspruch, dass zumindest eine WB eine Beschwerde inhaltlich prüft, bevor die Möglichkeit einer Ablehnung iSd Art 13(2) VO 1/2003 greift. Ist diese Überprüfung aber erst einmal erfolgt, sollte diese Überprüfung zumindest bei gleichem Sachverhalt auch Bindungswirkung für andere WB haben.
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