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EuGH C-617/17, 3.4.2019 - Parallelanwendung von nationalem und Unionsrecht und Verbot der „Doppelsanktion“03.04.2019

Zusammenfassung des Vorabentscheidungsverfahrens C-617/17, in dem sich der EuGH mit der Frage der parallelen Anwendung von EU- und nationalem Kartellrecht befasst hat und auf den "ne bis in idem" Grundsatz eingegangen ist.

Sachverhalt

Wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Markt für Gruppenlebensversicherungen in Polen durch PZU Życie, eines führenden polnischen Versicherungsunternehmens, stellte die polnische Wettbewerbsbehörde für die Zeit zwischen 2001 und 2007 Verletzungen sowohl von nationalem als auch von Unionsrecht gemäß Art 82 EG (ab Beitritt Polens zur EU, 2004) fest. Dementsprechend verhängte sie eine Geldbuße gegen PZU Życie in der Höhe von ungefähr 11,6 Mio Euro, zusammengesetzt aus 7,6 Mio Euro für den Verstoß gegen nationales, sowie 4 Mio Euro für den Verstoß gegen Unionsrecht.

Gegen diese Entscheidung erhob PZU Życie erfolglosen Einspruch vor dem Warschauer Bezirksgericht und dem Warschauer Berufungsgericht. Das in  Kassationsbeschwerde angerufene Oberste Gericht wandte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsgesuchs an den EuGH.

Argumente

PZU Życie hatte im Verfahren argumentiert, dass die verhängte Buße das Verbot der Doppelbestrafung, ne bis in idem, gemäß Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK] verletze.

Kernfrage des Verfahrens war somit, ob der Grundsatz ne bis in idem im gegenständlichen Sachverhalt in Polen verletzt worden war. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts verlangt der EuGH in Kartellrechtsverfahren für die Anwendung des Grundsatzes neben der Identität von Sachverhalt und dem Zuwiderhandelnden (die im konkreten Fall gegeben sind), zusätzlich auch die Identität des geschützten Rechtsguts. Dies stehe aber, so das Oberste Gericht, im Widerspruch zu der Auslegung des ne bis in idem Grundsatzes in der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der für die Anwendung auf das Gleichbleiben des objektiven Sachverhalts, nicht aber der rechtliche Bewertung abstellt - eine Interpretation, die der EuGH auch in Fällen außerhalb des Wettbewerbsrechts übernommen habe.

Dementsprechend waren Vorlegefragen des Obersten Gerichts in Polen, ob erstens das vom EuGH in Bezug auf Kartellrechtssachen herangezogene zusätzliche Kriterium der Identität des Rechtguts mit EMRK und Charta überhaupt vereinbar sei und (falls ja), ob zweitens unionsrechtliche und nationale Wettbewerbsregeln dasselbe Rechtsgut schützen.

Entscheidung des EuGHs

Der EuGH verwies einleitend darauf, dass die polnische Wettbewerbsbehörde sowohl von nationalem Recht als auch von sekundärem Unionsrecht, Art. 5 der Verordnung Nr 1/2003 („Verordnung“) des Rates, dazu ermächtigt ist, ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen Art 82 EG-Vertrag (nun Art 102 AEUV) zu verhängen und gem. Art 3 der Verordnung auch dazu verpflichtet war, Art. 82 EG (heute 102 AEUV) parallel anzuwenden.  

In Beantwortung der Fragen, die der EuGH gemeinsam behandelt, bekräftigt der Gerichtshof weiterhin seinen bisherigen Standpunkt, dass nationales und Unionsrecht auf unterschiedliche wettbewerbsrechtliche Aspekte abzielen, und demnach parallel anzuwenden sind.

Der ne bis in idem Grundsatz in Wettbewerbssachen grundsätzlich anzuwenden. Nach Ansicht des EuGHs schützt der Grundsatz Unternehmen dann, wenn es „in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde.“

Diese Interpretation von ne bis in idem sei  vom Wortlaut des Art. 50 Charta der Menschenrechte gestützt,[1] und entspreche auch dessen Zweck, Rechtssicherheit zu schaffen und Zuwiderhandelnden, die einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden sind, die Sicherheit zu geben, dass sie für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt werden.

Wenn somit nationales Recht und Unionsrecht gemäß Art. 5 der Verordnung parallel angewendet werden (und nicht z.B. nationales Recht im Nachzug eines bereits abgeschlossenen Verfahrens nach Unionsrecht), und jedenfalls solange die Sanktionen in der gleichen Entscheidung verhängt werden, ist der Grundsatz ne bis in idem nicht anwendbar.

Gleichzeitig ist die nationale Wettbewerbsbehörde auf Basis des Art. 10 EG (der „effet utile“ Grundsatz heute in Art 4 (3) EUV zu finden; im vorliegende Fall wurde die Sanktion noch vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auferlegt) dazu verpflichtet, Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, und dabei insbesondere die Schwere der kombinierten Sanktion verhältnismäßig zur Art des Verstoßes zu gestalten.



[1]Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden

 

Gerhard Fussenegger und Christian Braun, bpv Hügel

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