[EDITORIAL] von Reinhard Hinger
"Gewonnene Zeit"
Wir erleben ein Verfahren zur Gewinnung von Zeit durch Streichung vieler Termine aus dem Kalender, dadurch gekennzeichnet, dass Fristen unterbrochen werden und später erst neu zu laufen beginnen.
Oft klagen wir darüber, Zeit verloren zu haben oder dass uns jemand Zeit gestohlen hat. Selten freuen wir uns über Zeitgewinn. Fast nie denken wir darüber nach, ob Zeit überhaupt verloren oder gewonnen werden kann. Wenn man bedenkt, dass die Erdkugel seit langer Zeit unbeirrbar mit einer mittleren Geschwindigkeit von ca 107.200 km/h (rund 29.700m/s) um die Sonne reist und sich dabei, bevor sie wieder am selben Punktankommt, stets ca 365,25-mal um die eigene Achse dreht, erscheint die Frage von Zeitgewinn oder -verlust in einem seltsamen Licht.
Dennoch hat die Zeit – allseits bekannt – auch eine juristische Komponente. Alle Rechtsmittelfristen in bürgerlichen Rechtssachen, die nicht spätestens am 21. 3. 2020 abgelaufen waren oder die am 22. 3. 2020 oder später begonnen haben, beginnen erst mit Wirkung vom 1. 5. 2020 neu zu laufen.[1] Für die im Patent- und Markenverfahren geltenden 2-Monats Fristen bedeutet das, dass alle unbekämpft bleibenden Entscheidungen, die am 22. 1. 2020 oder später zugestellt wurden, erst am 1. 7. 2020 rechtskräftig werden. Bis zu diesem Tag läuft die Rechtsmittelfrist.
Zum Zeitvertreib halten wir zeitbezogenen Lesestoff für Sie bereit: Zum Beispiel können wir der Frage nachgehen, ob und wie lange Zeit ein Betreibender zuwarten darf, bis er einen Unterlassungstitel exekutiv durchsetzt (3 Ob 232/19t, Seite 124 in diesem Heft), ob ein neu entstandenes Unternehmen mit einer „langjährigen“ Tradition werben darf (4 Ob 149/19v, Seite 119 in diesem Heft) und wie viele Jahre lang man über einen zwei Sekunden langen „Tonfetzen“ prozessieren kann (C-476/17, Seite 135 in diesem Heft). Oder wir studieren den Beitrag zum „Heksenkaas“ (Seite 105 in diesem Heft) und überlegen, ob sich über Geschmack streiten oder nicht streiten lässt.
Genug Zeit in einer schwierigen Zeit wünscht Ihnen
Reinhard Hinger
[1] § 1 Abs 1 BG betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in der Justiz, BGBl I 2020/16 (Art 21) idgF.
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