[EDITORIAL] von Rainer Beetz
"Zur Hälfte entschieden"
Das Protokoll zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPG)[1] betreffend die vorläufige Anwendung fristete in Österreich bisher ein stiefmütterliches Dasein. Seit beinahe sechs Jahren lag es in Brüssel zur Unterzeichnung bereit, aber es wurde ihm wenig Beachtung geschenkt. Wozu auch? Das EPGÜ ist doch ohnedies auf unbestimmte Zeit in Schwebe, aufgrund der deutschen Verfassungsbeschwerden, oder? Doch Anfang Juli hat die BReg – für den objektiven Beobachter völlig überraschend – eine Regierungsvorlage ins Parlament geschickt, mit welcher das Protokoll vom Nationalrat genehmigt werden soll.
Zwei Tage später lichtete sich der Nebel: Siehe da, die offensichtlich gut informierte BReg hatte wohl schon vor der öffentlichen Verkündigung des Beschlusses des dt BVerfG davon Kenntnis, dass die beiden Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wurden. Dies mit der beachtlichen Begründung, dass die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache (!) unzulässig seien, weil die Bf die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte nicht hinreichend substantiiert dargelegt hätten. Auch wenn damit bisher nur über die Eilanträge, dh sozusagen zur Hälfte entschieden wurde, sieht es für die Bf in Anbetracht der Begründung wohl auch in der Hauptsache nicht gut aus. Da nur noch Deutschland als zwingender EPGÜSignatar fehlt, kann der dt BPräs nun jederzeit mit der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde das EPGÜ in Kraft setzten. Das bringt uns zurück zum Protokoll, welches bisher von elf Staaten ratifiziert wurde, für dessen Inkrafttreten aber 13 Ratifikationen erforderlich sind. Solange das Protokoll nicht in Kraft ist, kann der vorbereitende Ausschuss keine Richter ernennen, die IT-Infrastruktur nicht in Gang setzen etc. Alles Dinge, welche für einen Gerichtsbetrieb von nicht ganz unwesentlicher Bedeutung sind – die Behebung dieses Konstruktionsfehlers des EPGÜ ist ja gerade die raison d’ être des Protokolls. Dem Vernehmen nach sollen daher Österreich und Malta gebeten (um nicht zu sagen „gedrängt“) worden sein, das Protokoll nun bitte zu genehmigen – im Rückblick lassen sich manche Dinge oft viel einfacher erklären. Wenn’s wahr ist, könnte des EPG nun tatsächlich seine Tätigkeit Ende 2022/Anfang 2023 aufnehmen. (Disclaimer: Bisher war jede Prognose über das Inkrafttreten eines paneuropäischen Patentstreitverfahrens in den letzten 50 Jahren unrichtig – statistisch gesehen ist daher die Eintrittswahrscheinlichkeit der Prognose überaus gering.)
Eine Entscheidung zur Hälfte der anderen Art haben wir auch von der Großen Beschwerdekammer (BK) des EPA erhalten, an welche bekanntlich die Frage herangetragen wurde, ob die neue Bestimmung der Verfahrensordnung der BK, wonach mündliche Verhandlungen auch ohne Zustimmung aller Verfahrensbeteiligen per Videokonferenz abgehalten werden können, EPÜ-konform sei. Die Große BK ließ dazu in einer Pressemitteilung wissen (die begründete Entscheidungsausfertigung folgt erst), dass die Abhaltung mündlicher Beschwerdeverhandlungen ohne Zustimmung der Verfahrensparteien jedenfalls während eines allgemeinen Notstands zulässig sei. Ob dies auch nach Ende der Pandemie zulässig ist (darauf hatte die Vorlagefrage in Wahrheit abgezielt), lässt die Entscheidung offen. Es sieht danach aus, als würde dieses primär zwischen England (pro Videokonferenzen) und Deutschland (contra Videokonferenz) ausgetragene Match in die Verlängerung gehen – die Begründung für die nur halb entschiedene Sache wird spannend, kann aber vermutlich nur lauten: Gerichte haben keine Kompetenz, sich mit theoretischen Rechtsfragen zu beschäftigen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Große BK ein schlechtes pandemisches Orakel ist und aus der Theorie bald Praxis wird.
Rainer Beetz
[1] Siehe dazu Beetz, Nationale und internationale Rechtsentwicklung, ÖBl 2021/70, 204.
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