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Kronzeuge: Antrag der BWB auf Abänderung einer rechtskräftigen Geldbuße zulässig27.10.2023

Das KOG hat dem Rekurs der BWB gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf Abänderung einer rechtskräftigen Geldbußenentscheidung gegen einen Kronzeugen stattgegeben und dem Kartellgericht die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen.

KOG-Entscheidung vom 25.5.2023 – 16 Ok 8/22w – Kronzeuge

Die BWB hatte im Juli 2021 wegen kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Mitbewerbern die Verhängung einer – geminderten – Geldbuße über ein großes Bauunternehmen beantragt, welchem sie aufgrund dessen „außerordentlich umfangreicher Kooperation“ Kronzeugenstatus zuerkannt hatte. Das Erstgericht (Kartellgericht) verhängte daraufhin über dieses Unternehmen im Oktober 2021 mit (rechtskräftigem) Beschluss eine Geldbuße in der von der BWB beantragten Höhe von EUR 45,37 Mio.

Im Juli 2022 beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde die Abänderung dieses Beschlusses gemäß §§ 72 ff AußStrG und die Verhängung einer angemessenen Geldbuße, hilfsweise einer Geldbuße von EUR 181,51 Mio EUR über das Unternehmen, weil ihrim Juni 2022 im Zuge von strafrechtlichen Ermittlungen durch die WKStA Unterlagen zugekommen seien, wonach es auch bei anderen Bauvorhaben zu kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen des Unternehmens (der nunmehrigen Erstantragsgegnerin) gekommen sei. Das habe das Unternehmen damals nicht offengelegt, obwohl es umfassende Kenntnis davon gehabt habe. Das Unternehmen habe dadurch seine Kooperationsverpflichtung als Kronzeuge gemäß § 11b WettbG verletzt.Der Abänderungsantrag sei notwendig, um Wettbewerbsverzerrungen und -beschränkungen vollumfänglich entgegenzutreten und das öffentliche Interesse am Bestehen eines funktionierenden Kronzeugenprogramms und eine alle Tatsachen berücksichtigende Geldbußenentscheidung zu wahren.

Das KG wies den Antrag zurück, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass der Abänderungsgrund des § 73 Abs 1 Z 4 AußStrG wegen der mangelnden Strafbarkeit des behaupteten Verhaltens (bewusstes Verschweigen) der Kronzeugin nicht erfüllt sei, im Hinblick auf den Abänderungsgrund des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG das Vorbringen zu neuen Tatsachen nichts an der Bindung des Kartellgerichts an die Höhe der beantragten Geldbuße ändern könne, weil sich die neu hervorgekommenen Tatsachen nicht auf eine Änderung des verfahrenseinleitenden Antrags beziehen könnten, und der Abänderungsantrag gemäß § 73 AußStrG wegen seiner rechtsmittelähnlichen Funktion zudem voraussetze, dass der Antragsteller durch die Entscheidung des Vorverfahrens beschwert sei. Da hier dem Sachantrag zur Gänze stattgegeben worden sei, fehle es bereits an der formellen Beschwer. Eine materielle Beschwer reiche nur in Fällen aus, in denen die Entscheidung der Parteiendisposition entzogen und von Amts wegen zu treffen sei, was auf Geldbußenverfahren nicht zutreffe.

Das KOG gab mit Beschluss vom 25.5.2023, 16 Ok 8/22w, den Rekursen der BWB und des Bundeskartellanwalts gegen diese Entscheidung statt. Der Beschluss wurde aufgehoben und dem Kartellgericht dieFortsetzung des Verfahrens „unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund“ aufgetragen. Das KOG begründete seine Entscheidung zusammengefasst wie folgt:

Im vorliegenden Fall sei nicht strittig, dass die im Abänderungsantrag behaupteten neu hervorgekommenen Kartellrechtsverstöße von der Rechtskraftwirkung des ursprünglichen Geldbußenbeschlusses erfasst sind. Der Abänderungsantrag gemäß §§ 72 ff AußStrG vereine die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage der ZPO und sei diesen Rechtsbehelfen nachgebildet. Der Gesetzgeber habe mit der Schaffung dieses Abänderungsverfahrens ein eigenständiges Verfahren zur Beseitigung von mit besonders schwerwiegenden Mängeln behafteten – rechtskräftigen – Beschlüssen im Verfahren außer Streitsachen geschaffen, das auch im Kartellverfahren anzuwenden sei. Nach § 72 AußStrG könne die Abänderung eines Beschlusses nach den im 6. Abschnitt des AußStrG normierten Bedingungen begehrt werden, wenn die Wirkungen des Beschlusses nicht durch die Einleitung eines anderen gerichtlichen Verfahrens beseitigt werden können. Nach § 73 Abs 1 AußStrG könne nach dem Eintritt der Rechtskraft eines Beschlusses, mit dem über die Sache entschieden wurde, dessen Abänderung beantragt werden, wenn (Z 4) die Voraussetzungen nach § 530 Abs 1 Z 1 bis 5 ZPO vorliegen, sowie (Z 6) die Partei in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffindet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte.

Der Abänderungsantrag setze wegen seiner rechtsmittelähnlichen Funktion voraus, dass der Antragsteller durch die Entscheidung des Vorverfahrens formell oder materiell beschwert sei.Den Amtsparteien des Kartellverfahrens obliege es nach dem Gesetz, funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen und das öffentliche Interesse in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts zu vertreten. Werden durch eine kartellgerichtliche Entscheidung öffentliche Interessen in Angelegenheiten des Wettbewerbsrechts berührt, seien die Amtsparteien daher grundsätzlich befugt, diese Entscheidung mit Rekurs zu bekämpfen, sofern ihnen nicht ausnahmsweise das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Im Gleichlauf mit dem Rechtsmittelverfahren könne ein Abänderungsantrag jedenfalls von demjenigen erhoben werden, der durch die angefochtene Entscheidung des Vorprozesses formell beschwert ist und werde in jenen Fällen, in denen die materielle Beschwer zur Erhebung eines Rechtsmittels ausreicht, diese auch für die Einbringung eines Abänderungsantrags nach §§ 72 ff AußStrG genügen. Die Wertung, dass die Wiederaufnahme gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO auch in Fällen zulässig ist, in denen der spätere Wiederaufnahmekläger erst aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel in die Lage versetzt wird, nicht von vornherein aussichtslose Sachanträge zu stellen, sei vom Obersten Gerichtshof jüngst bestätigt und gleichermaßen auf einen mangels Erhebung des Einspruchs in Rechtskraft erwachsenen Zahlungsbefehl angewendet worden.

Im vorliegenden Fall liege eine der Säumnis, der unterbliebenen Erhebung des Einspruchs gegen einen bedingten Zahlungsbefehl oder des Anerkenntnisses wegen der unverschuldeten Unkenntnis von Tatsachen wertungsmäßig gleich zu haltende Konstellation vor. Ebenso wie beim Zivilprozess handle es sich beim kartellrechtlichen Geldbußenverfahren um ein nur auf Antrag eingeleitetes Verfahren, sodass grundsätzlich ein Abweichen der gerichtlichen Entscheidung vom Antrag, allerdings nur durch Verhängung einer geringeren als der beantragten Geldbuße, stets möglich sei. § 36 KartG enthalte zwar keine Verpflichtung, in einem Antrag auf Verhängung einer Geldbuße eine bestimmte Strafhöhe zu fordern, wenn die BWB eine Geldbuße in bestimmter Höhe beantragt, habe sie dies nach § 36 Abs 1a letzter Satz KartG aber zu begründen und sei das Kartellgericht insofern an einen solchen Antrag gebunden, als es keine höhere Geldbuße verhängen darf als beantragt.

Die Entscheidung der BWB, eine angemessene Geldbuße oder eine solche in bestimmter Höhe zu beantragen, würden von den Ergebnissen des von der BWB geführten Verwaltungsverfahrens abhängen. Eine Entscheidung der BWB, Unternehmer als Kronzeugen zu behandeln, könne mangels einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen nicht per se Gegenstand der richterlichen Kontrolle sein. Im vorliegenden Fall strebe die BWB allerdings nicht die gerichtliche Überprüfung der Anwendung des § 11b Abs 2 WettbG an, sondern sei ihr Antrag vielmehr auf die Abänderung der rechtskräftigen Entscheidung über die ursprünglich beantragte Geldbuße aufgrund neuer Tatsachen gerichtet.Nach den Antragsbehauptungen der BWB habe sie zum Zeitpunkt der Stellung ihres Geldbußenantrags vom Juli 2021 von der wahrheitsgemäßen und uneingeschränkten Zusammenarbeit der Erstantragsgegnerin zum Zweck der vollständigen Aufklärung des Sachverhalts im Sinn des § 11b Abs 2 WettbG ausgehen können. Ebenso, wie die Rechtsprechung einer Partei, der ein Bestreiten im Hauptprozess objektiv aussichtslos erscheinen musste, zubillige, neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel im Weg der erstmaligen Stellung eines Urteilsgegenantrags in das Verfahren einfließen zu lassen, stehe es der Zulässigkeit eines Abänderungsantrags nach § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG der BWB im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren nicht entgegen, dass eine für sie „günstigere“ Entscheidung nur im Weg der Stellung eines abgeänderten Geldbußenantrags erreicht werden kann. Im vorliegenden Fall scheitere die Zulässigkeit des Abänderungsantrags somit nicht an der fehlenden formellen Beschwer der Antragstellerin.

Soweit die Antragsgegnerinnen den Rechtsstandpunkt vertreten, die von der BWB behaupteten Umstände seien nicht als neue Tatsachen in Bezug auf die Geldbußenentscheidung anzusehen, sei festzuhalten, dass nach den Angaben im Abänderungsantrag die behaupteten neuen Tatsachen im Zeitpunkt des vorangegangenen Verfahrens, das mit dem Antrag vom 14. 7. 2019 eingeleitet wurde, bereits vorhanden waren und es sich daher um neue Tatsachen im Sinn des § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG handle. Diese Tatsachen würden – sofern sie sich als richtig erweisen – jedenfalls abstrakt geeignet erscheinen, eine Verletzung der Kooperationspflicht gemäß § 11b Abs 1 Z 2 WettbG zu belegen und auch nicht von vornherein ungeeignet, zu einer Aufhebung oder Abänderung der vorangegangenen Entscheidung zu führen. Da die Amtsparteien materielle Treuhänder der von ihnen gesetzlich wahrzunehmenden Interessen seien, sei eine der (behauptetermaßen nicht uneingeschränkten) tatsächlichen Kooperation entsprechende Geldbuße als eine für sie „günstigere“ Entscheidung anzusehen.

Soweit die Antragsgegnerinnen meinen, die Effektivität des – unionsrechtlich determinierten – Kronzeugenprogramms sei bei Zulassung des vorliegenden Abänderungsantrags beeinträchtigt, überzeuge das nicht. Es könne vielmehr der Effektivität des Kronzeugenprogramms nicht dienen, Unternehmer, denen aufgrund wissentlichen Verschweigens von Kartellrechtsverstößen der Kronzeugenstatus zuerkannt wurde, vor der Verhängung angemessener Geldbußen zu schützen, wenn sich nachträglich ergibt, dass die BWB davon unverschuldet keine Kenntnis hatte.

Zusammenfassung von Dr. Rainer Tahedl, Kartellrechtsexperte im Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb

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