[EDITORIAL] von Rainer Beetz
"Kennen wir das nicht?"
311 Fälle sind gemäß dem Anfang April veröffentlichten Statusbericht beim UPC bisher eingebracht worden. Auch wenn diese Zahl der etwas schönfärberischen Zählweise geschuldet ist, die jede Nichtigkeitswiderklage (von jedem Bekl) als eigenen Fall zählt (weshalb die Zahl der 142 Nichtigkeitswiderklagen jene der 110 Verletzungsklagen sogar übersteigt[1]), entwickelt sich die Rsp des UPC insb auch in Bezug auf verfahrensrechtliche Fragestellungen. Hierbei tun sich erstaunliche Parallelen zwischen den nun bereits vom UPC, der Krone der europäischen Patentgerichtsbarkeit, geklärten und noch zu klärenden Rechtsfragen auf und jenen Fragen, die in der österr Patentrechtsprechung erst nach zähem Ringen geklärt wurden oder nach wie vor nicht geklärt sind. Im Fußballjargon und somit als kleiner Teaser für den überaus lesenswerten Beitrag „Zwischen Sportsgeist und Marktmacht: Wie der EuGH in SuperLeague und Co den europäischen Sportmarkt aufmischt“ von Zöhrer/Wollmann (Seite 103) könnte man auch formulieren: Auch in der Champions League wird „nur“ Fußball gespielt.
Zu einer Frage, welche nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern (insb auch in Deutschland) bisher keiner abschließenden, eindeutigen Klärung zugeführt werden konnte, liegen nun bereits einander widersprechende Entscheidungen von zwei (deutschen) Lokalkammern in erster Instanz vor: Ist der Erteilungsakt bei der Auslegung des Schutzumfangs zu berücksichtigen?
Zunächst hat die Lokalkammer Düsseldorf (iW in Fortschreibung der dt Rsp) erkannt, dass die Erteilungsakten bei der Patentauslegung im Grundsatz nicht zu berücksichtigen sind. Art 69 EPÜ würde abschließend bestimmen, dass (nur) die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind. Bloßen Äußerungen im Erteilungsverfahren käme hingegen keine schutzbereichsbeschränkende Bedeutung zu; sie könnten allenfalls indizielle Bedeutung haben, wie die Fachperson das betreffende Merkmal verstehen kann.[2] Nur neun Tage später verließ die Lokalkammer München hingegen ausgetrampelte (nationale) Pfade und erkannte, dass die ursprüngliche Anspruchsfassung eines Europäischen Patents iZm im Erteilungsverfahren vorgenommenen Änderungen der Anspruchsfassung als Auslegungshilfe herangezogen werden kann.[3]
Sie erinnern sich an die österr Rechtslage? Hierzulande ist gleich beides richtig, es kommt (kurioserweise) aber darauf an, ob der Schutzumfang in einem Verletzungs- oder Feststellungsverfahren zu bestimmen ist. Laut hg Rsp ist – völlig im Einklang mit der Lokalkammer Düsseldorf – der Schutzbereich durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt, wobei jedoch die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung heranzuziehen seien. Ob die Erteilungsakten für einen engeren Umfang sprechen, sei hingegen nicht maßgebend, weil die Erteilungsakten keinesfalls Gewähr bieten, das gesamte Geschehen wiederzugeben, das tatsächlich zu der Erteilung des Patents in der jeweiligen Fassung geführt hat, und die Berücksichtigung ihres Inhalts (vermeintlich) in vielen Fällen neue Auslegungsprobleme schaffe.[4] Die Sache sieht allerdings grundsätzlich anders aus, wenn der Schutzumfang in einem Feststellungsverfahren zu bestimmen ist, denn hier normiert § 163 PatG ausdrücklich, dass der Inhalt der Erteilungsakten und der von den Parteien nachgewiesene Stand der Technik zu berücksichtigen sind.
Das UPC-Berufungsgericht hat sich in seiner ersten materiellrechtlichen Anordnung diesbezüglich noch nicht in die Karten blicken lassen und hat (nur) erkannt, dass die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen sind, und zwar nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch.[5] Immerhin hat es aber in dieser ersten materiellrechtlichen Anordnung schon geklärt, dass diese Grundsätze für die Auslegung eines Patentanspruchs gleichermaßen für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines Europäischen Patents gelten – eine Erkenntnis, die sich auch beinahe 50 Jahre nach Gründung des Europäisches Patentamts noch nicht in allen Beschwerdekammern durchgesetzt hat. In Anbetracht der sehr unterschiedlichen Rechtsprechungslinien der EPA-Beschwerdekammern zu dieser Frage wird nun endlich die Große Beschwerdekammer Gelegenheit zur Klärung bekommen.[6] Ob hier wohl die UPC-Anordnung berücksichtigt werden wird?
Die Parallelen enden aber keinesfalls hier, so hat das UPC-Berufungsgericht in dieser Anordnung – man könnte fast meinen in analoger Anwendung von § 156 Abs 3 PatG – auch erkannt, dass eine ausreichende Sicherheit hinsichtlich des Rechtsbestands des Klagepatents für eine einstweilige Unterlassungsverfügung geben ist, wenn es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich ansieht, dass das Patent gültig ist.
Seit Kurzem, und somit etwas mehr als neun Monate nach dem Start, ist es nun auch möglich, nach Entscheidungen und Anordnungen über eine Suchmaske auf der UPC-Website zu recherchieren. Das erinnert daran, als es 2014 – dank unseres Redaktionsmitglieds Senatspräsident Reinhard Hinger – nach langem Warten erstmals möglich war, im RIS nicht nur in den spärlichen OGH-Entscheidungen in Patentsachen zu recherchieren. Hier war und ist allerdings eine Recherche auch nach der Geschäftszahl möglich – an einer Recherchemöglichkeit nach Fallzahl wird in Luxemburg offensichtlich noch gearbeitet.[7]
[1] Hinzu kommen noch 29 Anträge auf einstweilige Maßnahmen, 28 Nichtigkeitsklagen, eine Schadenersatzklage und eine negative Feststellungsklage.
[2] UPC LK Düsseldorf 11. 12. 2023, CFI 452/2023, Ortovox.
[3] UPC LK München 20. 12. 2023, CFI 292/2023, SES-imagotag.
[4] OGH 9. 2. 2010, 17 Ob 35/09k, Isoflavon.
[5] UPC 26. 2. 2024, CoA 335/2023, 10x Genomics.
[6] T 439/22; dem Protokoll der mündl Verhandlung vom 10. 4. 2024 ist zu entnehmen, dass die BK Fragen zur Anwendbarkeit von Art 69 EPÜ in Verfahren vor dem EPA an die GBK stellen wird.
[7] ZB ist die E CoA 335/2023 nicht unter dieser Fallzahl aufzuspüren, dafür aber unter ihrer „order reference“ ORD_59599.
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