[EDITORIAL] von Reinhard Hinger
"Pub quiz feeling"
Wem vertrauen Sie? Verlassen Sie sich darauf, dass einen Text (zum Beispiel diesen Text) jemand geschrieben hat, die oder der die Wörter selber gewählt und sich ihre Reihenfolge selber ausgedacht hat? Oder vermuten/ fürchten/hoffen Sie, dass eine mächtige Rechenmaschine – angestoßen durch ein paar Schlagwörter – aus dem Ozean aller möglichen Texte Sätze zusammengefügt hat, die aufgrund von statistischen Berechnungen zusammenpassen könnten?
Keine Sorge: Es geht hier nicht um das Urheberrecht, sondern um die Tradition, alle Entscheidungen des OLG Wien in Marken- und Patentsachen im RIS zu veröffentlichen, und darum, wie Maschinen dabei helfen. Diese Tradition war vielleicht das Vorbild für den Plan, ins Gesetz eine umfassende Pflicht aufzunehmen, alle Entscheidungen der österreichischen OLG – anonymisiert – zu veröffentlichen.
Dieser Plan ist in einen Gesetzesentwurf gepackt worden, der sich – angestoßen vom VfGH[1] – mit ganz anderen Themen beschäftigt, die im Scheinwerferlicht stehen, nämlich in den Entwurf des Strafprozessrechtsänderungsgesetzes 2024.[2] Dort geht es zB darum, unter welchen Voraussetzungen und unter wessen Verantwortung Datenträger in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sichergestellt und ausgelesen werden dürfen (Stichwort: Handy-Beschlagnahme).
Nach § 48 a GOG[3] sollen künftig die Bestimmungen des OGHG[4] über das RIS sinngemäß auf rechtskräftige Entscheidungen der OLG anzuwenden sein. Damit hätten die OLG dieselben Pflichten wie der – auch dafür mit einem Evidenzbüro/wissenschaftlichen Dienst ausgestattete – OGH.[5]
Die quantitativen Auswirkungen wären enorm: Der OGH hat 3.114 Entscheidungen aus dem Jahr 2023 im RIS veröffentlicht. Im selben Jahr hat das OLG Wien 7.285 Verfahren erledigt. Obwohl nicht jedes Verfahren mit einer Entscheidung endet (weil es zB zu einem Vergleich kommt oder weil Rechtsmittel zurückgezogen werden) und obwohl nicht jede OLG-Entscheidung rechtskräftig wird,[6] wäre die Zahl jener Entscheidungen, die allein auf das OLG Wien entfallen, erheblich größer als die Zahl der OGH-Entscheidungen. Umso mehr würde dies für die Zahl der Entscheidungen aller OLG Österreichs gelten.[7]
Bei der maschinellen Anonymisierung von Entscheidungen ist Vorsicht geboten!
Zurück zum Vertrauen: Dem Glauben an die maschinelle Erstellung und Bearbeitung von Texten scheint der Aufwand gering, der mit einer sinnvollen Anonymisierung von so vielen Entscheidungen verbunden wäre. Versuchsweise sind Systeme im Einsatz, deren Ergebnisse teilweise zufriedenstellend sind, teilweise skurril. Vorsicht ist in zwei Richtungen geboten: Die Anonymisierung könnte Lücken haben, die betroffenen Personen schaden; oder die Anonymisierung schüttet alle Kinder mit dem Bade aus und schafft unverständliche Texte, die zu lesen Zeitverschwendung wäre. Gerade die Entscheidungen im Markenrecht sind hier sehr gefährdet.
Das zeigt ein Beispiel anhand einer jüngst veröffentlichten Entscheidung: Nach einer maschinellen Anonymisierung erführen die Leserinnen und Leser, dass die Wortmarken C* und D* verwechselbar sind. Mit ein bisschen „pub quiz feeling“ käme man vielleicht mit diesen Sätzen auf die richtige Spur:
Der Antragsgegnerin ist zuzustimmen, dass beide Zeichen einen Wortsinn haben. Während C* im Englischen für „pflegen“ oder das Adjektiv „Pflege ...“ steht, ist D* das Possessivpronomen, das im Lateinischen für „unser“ steht.[8]
Eine Spur rätselhafter wäre wiederum die folgende Überlegung:
Dass der Anfangsbuchstabe verschieden ist, spricht auch nicht grundsätzlich gegen die Verwechslungsgefahr; so wurde diese etwa im Hinblick auf die Wortbestandteile der Zeichen „** und **“ bejaht (133 R 37/19t).[9]
Hinter all dem steht ein Phänomen, dessen gängige Abkürzung auf dieser Seite nicht vorkommt. Sie scheint manchmal „keine Idee“ – in English „absent ideas“ – zu bedeuten.
Die marken- und patentrechtlichen Entscheidungen des OLG Wien werden weiterhin handverlesen anonymisiert und dann veröffentlicht. Ehrenwort.
[1] 14. 12. 2023, G 352/2021.
[2] 349/ME 27. GP.
[3] Gerichtsorganisationsgesetz, RGBl 1896/217, seither sehr oft geändert.
[4] BG über den Obersten Gerichtshof.
[5] Es gibt wenige Ausnahmen, etwa wenn die Veröffentlichung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren die Rechte von Beschuldigten und Opfern – trotz der Anonymisierung – beeinträchtigen könnte.
[6] Nämlich jene nicht, bei denen der OGH ein Rechtsmittel meritorisch erledigt oder die OLG-Entscheidung aufhebt; die Zurückweisung von Rechtsmitteln hingegen würde die Rechtskraft der OLG-Entscheidung bewirken.
[7] Als Faustregel wird bei solchen Gelegenheiten gern angenommen, allein das OLG Wien sei statistisch gesehen schon „halb Österreich“.
[8] Ein kleiner Hinweis: ECLI:AT:OLG0009:2024:03300R00136.23X.0222.000.
[9] Auflösung: „Nivea/Vivea“.
Nutzen Sie die Vorteile einer Mitgliedschaft bei der ÖVMitgliedsvorteile
Aufsätze und Entscheidungen mit Anmerkungen von Experten
jährlich 6 HefteAbo Bestellung bei ManzEditorial/Inhalt aktuelle Ausgabe
09.04.2025
WKO, Rudolf Sallinger Saal, Wiedner Hauptstraße 63, 1040 WienMehrBericht vergangenes Seminar